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Der Feensammler

von

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„Wann warst du das letzte Mal Zuhause, John?“

„Letzte Nacht. Zum Schlafen.“

„Du übertreibst es wirklich. Klar, du hast jetzt endlich die ersten Spuren. Aber dein Leben besteht mal wieder nur aus Schlafen und Arbeiten. Das macht dich nur kaputt, John.“

„Ich weiß selbst, was ich mir zumuten kann.“

„Ja, das haben wir vor fünf Jahren gesehen, wie gut du das weißt.“

„Ich hab den Fall damals geknackt. Ihr seid daran gescheitert. Ich habe es geschafft, okay?“

„Ja, stimmt schon. Aber du warst dann erstmal für ein ganzes Jahr weg wegen Burn Out. Und ich bin ehrlich, John. Du hättest noch ein Jahr dran hängen sollen.“

„Das ist Blödsinn. Mir fiel Zuhause nur die Decke auf den Kopf und es ging mir gut. Mein Therapeut hat mir auch grünes Licht gegeben.“

„Ja, dieses grüne Licht kann ich mir durchaus vorstellen. Wie oft hast du ihn deswegen angefleht?“

„....“

„Eben. Du hast ihm ja keine andere Wahl gelassen. Ich hab dir auch empfohlen dir ein Tier oder so anzuschaffen. Irgendwas, was dich zwingt ab und an nach Hause zu gehen. Nachdem du keine Familie hast, wäre eine Katze oder ein Hund doch keine schlechte Alternative, oder?“

„Ich bin kein Tiermensch und das weißt du, Tom.“

„Dann muss eine Freundin her.“

„Keine Zeit.“

„Ach, John. Du musst mal wieder hier rauskommen. Ein wenig Abstand zu dem Fall bekommen. Hast du schon einmal Waldbaden gemacht? Das ist total entspannend und momentan wachsen ja auch Pilze. Vielleicht findest du sogar den ein oder anderen und hast dann noch ein leckeres Abendessen.“

„Waldbaden? Ich steh nicht so auf schwimmen.“

„Hahaha, du sollst ja auch nicht im Laub baden. So nennt man es, wenn man einfach ein wenig im Wald spazieren geht und die Umgebung auf sich wirken lässt. Es ist echt genial und erholsam.“

„Warum sagt man dann nicht einfach Waldspaziergang dazu? Immer muss man irgendwelchen alten Sachen neue Namen geben, um sie den Leuten wieder verkaufen zu können. Lästig.“

„Ist doch egal, wie man es nennt und warum. Mach es doch einfach mal und du wirst sehen, dass du ganz neue Einblicke auf den Fall bekommst.“

„Hm...“

Nun stand er hier am Rand des Waldes und schlug die Tür seines Wagens zu. Tom hatte ihn diesen Ort empfohlen, weil er recht groß war und weiter von der Stadt entfernt lag. Er selbst wäre ja einfach in das kleine Stück an der Stadtgrenze gegangen, doch Tom bestand auf diesen Ort. Dort hatte er viel mehr Raum und war nicht innerhalb einer halben Stunde durch das ganze Gebiet gegangen. Auch die Wahrscheinlichkeit hier Pilze zu finden war größer, weil nur wenige Menschen wirklich tief hinein gingen.

John seufzte und schob sich seine kurzen Haare aus dem Gesicht, bevor er dann mit einem kleinen Korb bewaffnet in das Dickicht eintauchte. Es dauerte nur wenige Schritte und der Lärm der zurückliegenden Straße wurde von den Pflanzen geschluckt und eine angenehme Geräuschkulisse entstand. Es war nicht wirklich still, denn hier und da hörte man einen Vogel pfeifen oder das Rascheln eines Tieres im Gebüsch.

Die Luft war so rein, dass John nicht anders konnte als einmal tief durchzuatmen. Sein Kopf fühlte sich mit jedem Schritt leichter und freier an. Auch merkte er, wie er sich immer mehr aufrichtete. Eine unsichtbare Last schien sich von seinen Schultern zu lösen und so seinen Brustkorb noch einmal ein Stück weiter zu öffnen.

Immer wieder ließ er seinen Blick über den Waldboden wandern, um den ein oder anderen Pilz zu finden, doch er nahm nur die mit von denen er wusste, dass man sie wirklich essen konnte. Braune Pilze mit einem gelben Schwamm, der auf Druck blau wurde. Sonst kannte er keine essbaren, die er ohne Zweifel identifizieren konnte und so ließ er öfters ein paar Pilze stehen.

Tom hatte Recht behalten. Hier waren wirklich noch sehr viele Pilze zu finden, aber er konnte auch verstehen, dass die meisten diesen Ort mieden. Es war ein wirklich großer Wald und John musste sich immer wieder neue Orientierungspunkte suchen, um sich  nicht gänzlich zu verlaufen. In erster Linie verwendete er die Sonne dafür, um sich in eine gezielte Himmelsrichtung fortzubewegen.

Immer wieder korrigierte er seinen Weg, bis sich unter die frische Luft plötzlich ein süßlicher Geruch schlich. John kannte ihn und an sich sollte es ihn nicht verwundern, doch er wurde immer intensiver und verwandelte sich langsam in ein penetrantes Beißen, das ihn beinahe die Luft abschnürte.

Es sollte nicht untypisch sein, dass hier irgendwo ein Kadaver lag. Ein gestorbenes Tier, das noch darauf wartete gänzlich verwertet  zu werden, doch für eine einzige Leiche war dieser Geruch zu intensiv. Vielleicht sollte er es dem Förster melden, damit dieser der Ursache auf den Grund gehen konnte, doch irgendetwas sperrte sich in ihm jetzt umzudrehen und den Besitzer des Waldes zu kontaktieren.

„Boah, puh.“ Der Gestank wurde gerade so penetrant, dass er sich verzweifelt seinen Jackenärmel über Mund und Nase hielt damit er noch ansatzweise atmen konnte. Dort musste eine ganze Herde von Tieren verrotten. So etwas musste den Förster doch aufgefallen sein, oder nicht?

Mittlerweile brannte sich der Gestank auch in seine Augen und trieb ihn Tränen hinein, während er verzweifelt versuchte durch den Mund zu atmen, um so den Brechreiz zu minimieren und nicht umzukippen. Die Bäume wurden langsam weniger, was auf eine natürliche Lichtung hinwies und kaum stolperte er durch das letzte Dickicht waren alle Vorsichtsmaßnahmen umsonst gewesen. John erbrach sich sofort.

So ein Bild hatte er noch nie erlebt. Vor ihm waren die dreizehn vermissten Kinder. Nackt. Mit Flügeln am Rücken und den unterschiedlichsten Verwesungsgraden. Es wirkte, als würden sie sich dort einfach zum Spielen treffen, wenn manche nicht schon Teile ihres Skelettes zeigen würden.

John wollte nicht hinsehen, doch er konnte es nicht verhindern. Sein Blick wanderte weiter über die Kinder, die dort so penibel positioniert waren. Ihre bunten Flügel am Rücken und so friedlich. Er versuchte nicht die Leichen anzusehen, in denen sich Larven und Würme tumelten oder die gar von anderen Tieren angefressen wurden, sondern ging zu der kleinen Amelie, die so unversehrt wirkte, als würde sie wirklich hier sitzen und darauf warten zu spielen. Nur die gespannte Haut deutete darauf hin, dass der Körper schon dabei war auszutrocknen. Aber auch aus ihrer Nase fiel schon eine Larve heraus, die sich verzweifelt einen neuen Eingang in den Körper suchte.

John schluckte um einen erneuten Brechreiz zu unterdrücken und angelte dann nach seinem Handy, um mit zittrigen Händen die Nummer seiner Wache zu wählen. Er versuchte sich zu beruhigen. Es war kein Menschenhandel. Es war keine Gruppe Pädophiler, zumindest hoffte er das. Es war... er fand keine Worte dafür. Nicht für diesen Ort oder das, was mit den Kindern geschehen war.

„Ich habe sie gefunden. Die vermissten Kinder. Sie sind alle hier. Tot. Hol dir meine GPS Daten.“ Er hatte die Begrüßung seiner Kollegin am Telefon gar nicht wahr genommen. Immer wieder musste er dieses Szenario betrachten. So absurd. So bizarr. So wunderschön und zärtlich arrangiert. Ein Kind schien auf dem Boden zu liegen und die Grashalme zu zählen. Ein Bein in der Luft. Oder sollte er eher Skelett sagen? Die Haut hing in Fetzen runter und der Faden, der den Fuß in der Luft hielt, hatte auch schon an Spannung verloren. Selbst Teile des Schädels sahen heraus und auch der ausgestreckte Arm war nur noch ein skelettierter Stumpf.

John konnte Teile der Lunge sehen. Der Darm lag zerfetzt auf den Boden. Wie? Wie konnte der Täter hierher zurückkehren und dieses Bild so akzeptieren? Was für ein Monster musste das sein?

„John? Bist du es? Okay, ich schicke dir gleich unsere Kollegen. Geht es dir gut?“

„Ja. Danke. Orte mich bitte.“

„Ja, mach ich. Oh, John, es tut mir Leid. Wir haben alle so gehofft.“

„Ja, ich auch.“

„Wo bist du? Ist das ein Waldstück?“

„Ja.“

„Was machst du da?“

„Pilze suchen. Entspannen. Toms Tipp.“ Er konnte keine klaren Sätze mehr formulieren. Immer wieder sah er die Kinder an. Die wunderschönen Flügel, die an ihren Rücken hingen. Wer tat das? Warum? Das ergab alles keinen Sinn. Ein Kind lag zusammengefallen unter einem Ast, an dem seine Hände festgebunden waren. Auch hier hatten sich die Tiere schon teilweise bedient. Ein Auge war nicht mehr da und John starrte nur eine leere, rote Höhle an. Ein Bein fehlte und auch dort war die Bauchdecke aufgerissen, um an die Innereien zu kommen. Die Eltern dürfen ihre Kinder niemals so sehen.

„Oh... Ich hab dich geortet. Die Kollegen kommen gleich. Halte durch, John.“

„Ja, danke.“ Er legte auf und ließ sein Handy autonom in seine Tasche gleiten. So viele Leichen. So viele Kinder. Alle Hoffnung zerstört. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wünschte er sich mehr einen Menschenhandelring. Auch ein Pädophilenring wäre ihm lieber gewesen als das hier. Denn dann hätten die Kinder noch eine Chance gehabt aus der Sache lebend rauszukommen. Aber so... So war alles vorbei. Auch für das Kind, das lässig an einem Baumstamm lehnte. Seine Füße waren angenagt und ein Ohr abgerissen. Genauso wie die Nase. John zwang sich nicht mehr genauer hinzusehen und an den Rand des Schreckensortes zu gehen.

Er wartete auf seine Kollegen und die Spurensicherung. An sich hätte er den Ort gar nicht betreten dürfen. Doch... er wollte wissen, ob auch sie da war. Auch für Amelie war es zu spät. Er schien sich die Kinder nicht aufzuheben, sondern gleich nach der Entführung zu töten. Wer ihm also in die Hände fiel, hatte keine Überlebenschance mehr. Aber das Einzige, was nach Gewalt aussah, waren die angenähten Flügel. Sonst wirkte der Körper von Amelie auf den ersten Blick unversehrt. Er hatte keine Würgemerkmale oder Stichwunden entdeckt. Warum tat er das? Wie tötete er sie? Erstickte er sie etwa mit einer Plastiktüte? Gift? Zwang er die Kinder es zu essen?

John wollte es verstehen. Wieso ließ er die Kinder wie Feen aussehen und setzte sie in den Wald, um sie so dem Lauf der Dinge zu überlassen? Welches Ziel verfolgte er? Was trieb ihn an? Für John wirkte dieses Bild so absurd, dass es mehr Fragen aufwarf, als wirklich beantwortete. Doch eines war er sich jetzt sicher: Hier waren alle Kinder, die er so verzweifelt gesucht hatte. Sie waren alle tot. Aus einem Vermisstenfall wurde ein Serienmord.

Er schluckte trocken und zwang sich noch einmal durchzuzählen. Es waren dreizehn Kinder. Dreizehn Leichen. Dreizehn zerstörte Familien. Er war zu langsam gewesen. Warum hatten sie diesen Wald nicht durchsucht? Weil er zu weit weg war und zu groß. John musste lachen und strich sich fassungslos durchs Gesicht, als er spürte, wie sich die Verzweiflung um sein Herz krallte.

Er musste den Kerl schnappen, bevor er sich das nächste Kind holte. Ja, er würde ihn hinter Gitter bringen. Davon war John überzeugt, als er schon die gedämpften Sirenen seiner Kollegen hörte. Diese waren so überflüssig. Hier gab es nichts mehr zu retten. Sie waren alle tot. Alle Kinder waren ermordet worden. Eiskalt getötet und dann hier ausgestellt, wie eine Sammlung. Ja, eine groteske Sammlung lauter kleiner Feen...



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